Fast jeder kennt das Markenzeichen der Firma Michelin, das Michelin-Männchen, doch die wenigsten wissen, dass es schon über hundert Jahre alt ist. Und ehrlich gesagt, wusste ich das, bevor ich ein Thema für meine Bachelor-Arbeit gesucht habe, auch nicht. Als ich die Idee hatte, über Plakatkunst im Jugendstil zu schreiben, hatte ich wohl eher Werke von Henri de Toulouse-Lautrec oder Jules Chéret im Kopf und weniger die Werbeposter der Firma Michelin mit dem pummeligen Reifenmännchen darauf. Letztlich hat es sich als super interessantes Thema herausgestellt.
Die Anekdote zur Entstehung des Michelin-Männchens geht so:
1894 besuchten Edouard und André Michelin auf der Welt- und Kolonialausstellung in Lyon den Stand ihrer Firma Michelin et Cie. Der Eingang des Standes war mit zwei Reifenstapeln geschmückt und muss sehr plastisch auf Edouard gewirkt haben, denn er soll bei diesem Anblick folgendes zu seinem Bruder gesagt haben: „Schau, zwei Arme dran – und schon wäre das ein Männchen“.
Einige Tage später erhielt er zufällig von dem Grafiker O’Galop verschiedene Skizzen. Eine davon zeigte einen korpulenten Biertrinker, der sein Glas hochhält und einen lateinischen Trinkspruch vorträgt: „Nunc est bibendum!“ (jetzt muss getrunken werden!). Aus dieser Vorlage entwarf Edouard Michelin zusammen mit O’Galop ein Plakat, auf dem das „Reifenmännchen“ ein mit Nägel und Scherben gefülltes Glas hochhebt und den Konkurrenten zuruft: „à votre santé“ (auf ihr Wohl). Diese Szene wird untertitelt mit dem Slogan „Le pneu Michelin boit l’obstacle!“ (der Michelin-Reifen verschluckt die Hindernisse). Diesen Satz hatte Edouard zuvor in einem seiner Vorträge zur Absorptionsfähigkeit von Stößen durch den luftgefüllten Reifen verwendet. So entstand im April 1898 der erste Entwurf zu der berühmten „Nunc est bibendum!-Plakatreihe“ und gleichzeitig das noch namenlose „Reifenmännchen“.
Einen Namen erhielt es erst ein paar Monate nach Entstehung des Plakats: Der berühmte Rennfahrer Léon Théry rief André Michelin, der gerade bei dem Rennen Paris – Amsterdam – Paris ankam, zu: „Schau da kommt Bibendum.“ Offensichtlich kannte er die Bedeutung des Wortes auf diesem ersten Plakat nicht, verpasste aber mit diesem Missverständnis dem „Reifenmännchen“ seinen Namen.
Auf einer Exkursion nach London hatte ich dann Gelegenheit, einige der original Bibendum-Plakate zu sehen: Denn hier in der Fulham Road 81 im Stadtteil Chelsea wurde 1911 die Hauptgeschäftsstelle von Michelin in England eröffnet. 1985 verkaufte Michelin das extravagante Gebäude mit Jugendstil-Charme. Die neuen Besitzer machten aus ihm das, was es auch heute noch ist: Das „Bibendum“ – ein Gourmetrestaurant mit Austern Bar. Die Original-Fassade ist glücklicherweise erhalten geblieben und restauriert.
Nachdem ich nett gefragt hatte, durfte ich einen Blick ins Innere werfen (auch ohne die erkennbare Absicht, Austern oder irgendetwas anderes zu essen). Das ganze Gebäude wirkt wie eine Hommage an das Michelin-Männchen selbst: Verschiedene Bibendum-Plakatmotive sind in der Architektur als Buntglasfenster oder Bodenmosaike umgesetzt und sämtliche Ornamente und Kacheln an der Fassade sind von Autorennen oder Reifen inspiriert. Das Männchen findet sich sogar auf dem Café-Geschirr des Hauses.
Offenbar eignet sich das luxusverwöhnte und nimmersatte „Genussmännchen“ genauso gut als Logo für ein Gourmetrestaurant. Bei meinem nächsten Besuch muss ich hier unbedingt mal einen Tisch reservieren!